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Abgrundtief: Namenloses Grauen – eine must-have Erweiterung?

von Johannes

Über das Spiel

Vorwort

Als das Grundspiel Abgrundtief 2021 auf dem Markt kam, spaltete es doch ein wenig die Gemüter. Stein des Anstoßes war, dass es eine Reimplementation des überaus beliebten Battlestar Galactica (BSG) von 2008 ist. Dan Thorot hat sich zum Beispiel auf seinem Blog darüber geschrieben, warum er BSG bevorzugt. Und das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass Lovecraft, auf den das spielerische Universum zurückgeht, bekanntermaßen Rassist, Antisemit und homophob war. Thorot bemängelte auch, dass Abgrundtief nicht die gleiche erzählerische Tiefe erreicht wie BSG. Ich habe mich trotzdem über und auf das Spiel gefreut, denn ich habe BSG weder besessen noch gespielt. Da die Gebrauchtmarktpreise bis zum Erscheinen von Abgrundtief zudem astronomisch hoch waren (wie passend…; die Lizenz von BSG war ausgelaufen und es konnte nicht mehr nachgedruckt werden), hatte ich auch nie einen Anreiz dies trotz der Top-Bewertung bei BGG zu ändern. Darüber hinaus gefällt mir persönlich das Horror-Thema viel besser als Science Fiction – ein Genre, für das ich mich nie begeistern konnte. Lovecraft hatte zudem keine Nachkommen und so komme ich auch ohne schlechtes Gewissen aus, möglicherweise einen Rassisten beziehungsweise dessen Familie zu unterstützen. Das schreibe ich auch in dem Wissen, dass sich der Großteil des Horrors in seiner Welt von der Furcht vor dem Unbekannten nähert, welches hier allerdings ganz plastisch daherkommt.

Als ich angefangen habe diese Rezension zu schreiben, fühlte ich mich dennoch ein wenig wie die Passagiere der SS Atlantica auf ihrem Weg nach Boston: Der Ausgang war ungewiss. Sorge bereiteten mir jedoch nicht Rituale zur Beschwörung von lovecraftschen Monstern, sondern die Frage, wie ich wohl mit einer Erweiterung umgehen sollte. Bewerte ich nur die Erweiterung, oder das Grundspiel mit Erweiterung? Ist es überhaupt möglich, diese Trennung vorzunehmen? Oder müsste nicht ein Vergleich zwischen dem Grundspiel und dann dem Grundspiel mit Erweiterung her? Meinen Blog gab es beim Erscheinen von Abgrundtief noch nicht und ich habe es entsprechend damals nicht besprochen und kann deshalb auf keiner Rezension aufbauen. Ich habe mich deshalb für einen Mittelweg entschieden: Bei der Erklärung der Mechanik beziehe ich das Grundspiel mit ein. Danach erläutere ich, was bei der Erweiterung dazukommt und was ich davon halte. Die Bewertung schließlich bezieht sich auf das Spielerlebnis von Grundspiel und Erweiterung gemeinsam. Ich bitte zudem zu verzeihen, dass es mir als gebürtiges Nordlicht große Freude bereitet hat, allerlei nautische Wortspiele mit einzupflegen. Es lag einfach zu nahe und beginnt schon mit der ersten Überschrift:

Eintauchen in die Welt von Abgrundtief

Wir schreiben das Jahr 1913. Ihr seid Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord der S.S. Atlantica, einem kleinen Passagierdampfer, der auf dem Weg nach Boston den Atlantik überquert. Bereits an den ersten Tagen der Überfahrt mehrten sich Gerüchte über lange, dunkle Umrisse, die angeblich im Kielwasser des Schiffes gesichtet wurden. Einige an Bord verhalten sich merkwürdig, geben quakende Laute von sich oder starren ohne zu blinzeln auf das offene Meer hinaus. Auch ihr seid nicht ganz auf der Höhe. Träume von gespenstischen Unterwasserlandschaften, wimmelnd vor schattenhaften Gestalten, stören euren Schlaf. Die Stimmung ist angespannt, die Nerven liegen blank. Das Schiff ist ein Pulverfass, das jederzeit explodieren könnte.“ (Verlagstext)

Die atmosphärische Einleitung in der Anleitung fängt die Stimmung dieses Social Deduction Thrillers in meinen Augen sehr gut ein, denn das Spielgefühl von Abgrundtief ist grundsätzlich von Misstrauen geprägt. Als Spieler*innen spielen wir Personen auf dem Schiff. Jede*r erhält dazu eine Charakterkarte und die Charaktere haben unterschiedliche Fähigkeiten und Aufgaben. Am Anfang und in der Mitte der Partie (es kann durchaus passieren, dass sich meine geheime Gesinnung ändert) werden zudem Loyalitätskarten verteilt, die uns in Menschen und sogenannte Hybride aufteilen, von denen es je nach Spieler*innenanzahl eine bestimmte Menge gibt. Die Hybriden sind die Verräter und wollen das Schicksal der Passagiere negativ besiegeln, in dem sie verhindern, dass das Schiff in Boston einläuft. Die Menschen hingegen legen alles daran, in Sicherheit anzukommen. Am einfachsten gelingt dies, wenn schon frühzeitig herausgefunden wird, welchen Personen am Tisch nicht getraut werden kann, um diese dann in der Brig (eine Arrestzelle an Bord des Schiffes) einzusperren. Aber herauszufinden, welche genau das sind, ist gar nicht so einfach. Und dann sind ja nicht nur die Verräter gefährlich, sondern auch die Monster, die vom Kielwasser aus an Bord klettern, das Schiff beschädigen und Passagiere töten.

Im Maschinenraum

Mechanisch ist das Spiel dabei so eingängig, dass nach ein paar Spielzügen, der Flow nicht mehr allzu stark gestört wird, insofern sich eine Person für die Verwaltung kenntlich zeigt und die Einhaltung der Regeln überwacht (meist bin ich das…). Bin ich am Zug, dann habe ich genau zwei Aktionen. Ich kann mich beispielsweise über das Schiff bewegen, Gegner angreifen (Würfelwurf über einem Schwellenwert), Gegenstände und Fertigkeitskartenaktionen nutzen, Gegenstände besorgen oder auch das Schiff anfeuern. Im Anschluss wird – wie bei vielen anderen Spielen in diesem Universum – eine Mythos-Karte gezogen. Dies ist auch der interessanteste Teil des Spiels, denn es gibt sowohl Mythoskarten, die Entscheidungen von einer Person verlangen, als auch Mythoskarten, die Proben bedürfen, an denen sich alle Spieler*innen beteiligen dürfen. Hierzu werden Karten bestimmter Kategorien benötigt, die ich zur Probe reihum verdeckt beitrage. Passt meine Karte, dann wirkt sich das positiv auf das Gelingen der Probe aus, passt sie nicht, dann eben negativ. Verräter*innen versuchen also möglichst gezielt einzelne Proben misslingen zu lassen. Hierbei hilft, dass zu jeder Probe noch zwei Karten vom Chaosstapel dazu gepackt wird und die Karten vor dem Aufdecken durchgemischt werden, sodass man nie genau wissen kann, wer was wirklich gespielt hat. Aber verdächtigen darf man die anderen natürlich lauthals. „Hausierer! Ikonoklasten! Schnapphähne! Süßwassermatrosen! Hatschi-Bratschis!“

Die Konsequenzen sind an Bord meist direkt spürbar. Da gehen Ressourcen verloren (Seelen, Brennstoff, Nahrung oder psychische Gesundheit) oder Passagiere werden riskiert, in dem sie ans Deck laufen, wo sie potenziell gefressen werden können. Im Anschluss an die Probe fährt das Schiff meist ein kleines Stück vorwärts und es gibt einen Monsterzug. Es gibt im Grundspiel drei verschiedene Monstertypen: Vater Dagon, Mutter Hydra (die Monarchen) und Tiefe Wesen. Pro Zug wird meist nur einer der Typen aktiviert, wobei Vater Dagon weitere Tiefe Wesen ins Spiel bringt. Diese werden den Spieler*innen ebenfalls gefährlich, in dem sie das Schiff beschädigen oder bei Kontakt in den Kampf eintreten, was schlimmstenfalls in der Krankenstation endet oder Passagiere kostet.

Natürlich wird in der Kombüse noch mehr mechanisches Fleisch weichgekocht, aber für das Verständnis des Spiels muss es nun reichen. Wenn nicht, gibt es hier eine gute Erklärung.

Nur more of the same oder auch sinnvolle Erweiterungen?

Mit Blick auf den Inhalt der Erweiterung fällt zunächst die lange Materialliste auf. Zu nahezu jedem Spielelement von Abgrundtief ist ein „mehr“ enthalten. Mehr Charaktere, mehr Gegenstände, mehr Zauber, mehr Fertigkeiten. Fans von Fantasy-Flight-Spielen (zum Beispiel Arkham Horror, Villen des Wahnsinns) kennen das Prinzip. Bietet das Grundspiel zunächst oft nur wenig Variation durch Materialbegrenzung, wird der zu erklimmende Eisberg mit jeder Erweiterung immer höher und endet irgendwann in einer nahezu unbezwingbaren Materialschlacht.

Gerade die neuen Mythoskarten, die in der Box enthalten sind, sind an sich für das Spiel schon ein Zugewinn, was den Wiederspielreiz angeht. Der Verlag hat hier aber noch eins draufgelegt und auch neue Mechaniken mit verpackt. Dabei gibt es bereits Bekanntes aus anderen Spielen, wie den Prologkarten, die den Aufbau etwas variieren, aber auch gute Ergänzungen zur Kernmechaniken. So werden in der Erweiterung Verbündete eingeführt, die sich zu erkennen geben, wenn ein Passagier gerettet wird. Fortan kann ich diese also benutzen, wenn ich mit ihnen auf einem Feld stehe. Oft bieten sie starke Aktionen, für die ich allerdings einen Preis in Aktionskarten bezahlen muss. Wo es an einer Stelle etwas einfacher wird, muss es natürlich an anderer Stelle auch schwerer werden. Gleich drei zusätzliche „Horror“-Monster bietet die Erweiterung. Der Schoggote greift primär Menschen auf seinem Feld an. Der Geist eines Betrunkenen beschädigt das Schiff und der greifende Tentakel greift ebenfalls Menschen an und zieht Passagiere ins Wasser. Horror-Monster können nicht getötet, sondern nur verdrängt werden, sie sind also dauerhaft nachteilig, sobald sie auf das Spielfeld kommen. Ausgelöst und aufgestellt werden sie durch die neue Horrorleiste, die ebenfalls durch die Mythoskarten aktiviert wird.

Auf der Seite der Fertigkeitskarten kommen mächtige Gunstkarten dazu, die ich in meinem Zug wie andere Fertigkeitskarten verwenden kann.

Geliefert wird die Erweiterung wieder in einer großen Box ohne Inlay, in der das Material nur einen kleinen Teil des Platzes wegnimmt. Statt eine aktualisierte Anleitung zu liefern, darf ich jetzt fortan mit zwei Anleitungen hantieren. Auch dies also ganz Fantasy Flight typisch. Immerhin wurden die Spieler*innenhilfen angepasst. Unsere alten Hilfen habe ich schon wegsortiert, denn ohne Erweiterung werden wir das Spiel wohl nie wieder spielen.

Mit oder ohne Erweiterung, das ist hier die Frage?

Denn auch wenn sich die Materialliste und die Beschreibungen der Neuerungen vielleicht auch nicht nach allzu viel anhören, sind die Partien durch die größere Anzahl an Monstern, das Mehr an Möglichkeiten bei den Verbündeten, die Prologkarten und die neuen Mythoskarten deutlich abwechslungsreicher. Dabei wird weder der Schwierigkeitsgrad angepasst noch das Spielgefühl getrübt und das ist bei diesem Spiel das wichtigste, finde ich. Allerdings kommen durch die Horrorkarten jetzt die Monarchen etwas seltener dran und sind damit etwas weniger bedrohlich als noch nur im Grundspiel. Ist mir das aber zu leicht, dann bietet das Spiel aber ja viele Möglichkeiten, um den Schwierigkeitsgrad an das Gruppenbedürftnis anzupassen – Vorschläge liefert die Anleitung. Immer im Hinterkopf behalten sollten wir dabei aber, dass dies kein vollkooperativer Titel, wie Arkham Horror, ist, sondern Spieler*innen gegen Spieler*innen antreten. Schwierigkeitsanpassungen gehen immer zu Ungunsten einer der beiden Gruppen (Menschen oder Verräter) und der Spielspaß soll ja für niemanden auf der Strecke bleiben.

In der Überschrift habe ich die Frage gestellt, ob es sich hier um eine Must-Have-Erweiterung handelt. Und ich sage freimütig: Nein. Die Erweiterung ist sehr gut, spiele ich Abgrundtief aber ohnehin nur selten, dann komme ich wahrscheinlich auch ohne sie aus. Die Erweiterung hilft höchstens dabei, das Spiel öfter auf den Tisch zu bringen, weil sich die Partien noch stärker unterscheiden. Am grundsätzlichen Spielgefühl, der Spannung, die am Tisch entsteht, wenn ich nach den Verräter*innen fahnde, daran ändert sich jedoch nichts. Klappt das bei euch nicht, dann liegt es wohl eher an den Mitspieler*innen als am Spiel und die Erstgenannten sollten zuerst über die Planke gehen.

Transparenzhinweis

Für diese Rezension stand ein kostenfreies Rezensionsexemplar zur Verfügung, welches dem Ministerium ohne Auflagen vom Verlag übermittelt worden ist.

Abschließende Bewertung des Ministeriums

„Mit ‚Namenloses Grauen‘ kommt ist eine sehr gute, aber keine Must-Have-Erweiterung für den grandiosen Social Deduction-Thriller Abgrundtief erschienen. Neben dem vom Verlag gewohnten ‚mehr‘ an Karten liefert die Erweiterung einige schöne neue Mechaniken, die dazu führen, dass wir sie fortan dauerhaft ins Boot holen werden. Am Spielgefühl ändert sich durch die Erweiterung aber nichts und spiele ich das Spiel nur sehr selten, dann brauche ich die Erweiterung wohl nicht unbedingt.“
Johannes
Brettspielminister

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