Über das Spiel
- Erschienen bei Gmeiner-Verlag
- Autor: Jens-Florian Groß
- BGG-Wertung: – | Weight: 1,00 | Spieler*innenanzahl: 2-4
Vorwort
Neulich erhielt ich eine Anfrage von einem Bekannten, den ich als eifrigen Schreiber und Diskutanten und kritischen Zeitgeist unter anderem auf dem Beeple-Discord kennengelernt hatte. Er habe ein neues Spiel (sein Erstlingswerk!) entwickelt und fände es gut, wenn ich es rezensiert würde. Das Thema fand ich als eifriger True-Crime-Podcast-Hörer grundsätzlich spannend – es sollte um die Entwicklung von Kriminalfällen gehen – und so sagte ich zu. Einige Tage später erreichte mich das Spiel.
Um ein besonders gutes Spielerlebnis zu befördern, brachte ich das Spiel zuerst mit einer Gruppe auf den Tisch, die viele kooperative Spiele und Rollenspiele spielt, also grundsätzlich kreativ und redegewandt ist.
Erfindet euren eigenen Fall – das Spielsystem
Den eigenen Fall erfinden, das ist das Ziel bei diesem semi-kooperativen Spiel. Das Erlebnis der Story-Entwicklung steht also im Zentrum und Spiel gibt nur einen Rahmen vor, in dem das geschehen kann. Aus diesem Grund ist es auch wichtig, dass das Regelsystem möglichst niedrigschwellig ist und den Prozess nicht unnötig behindert:
In der Mitte des Tisches liegen Fragen zum aktuellen Fall. Diese können beispielsweise danach fragen wie „der Täter entkommen ist“, „wer das Opfer ist“, oder was für eine Tatwaffe es sich handelt. Die Spieler*innen erhalten zudem pro Person vier Beweiskarten in unterschiedlichen Kategorien, wie „Akte“, „Opfer“, „Tatmotiv“ oder „Verdächtiger“ sowie jeweils eine Rollenkarte. Bin ich am Zug, dann kann ich entweder erzählerisch die Story weiterspinnen, in dem ich eine der Fragekarten zu mir nehme und diese mithilfe meiner Beweiskarten ausschmücke, oder ich kann einen meiner Beweise mit einem*einer Mitspieler*in oder dem Ablagestapel austauschen. Dies ist mitunter notwendig, da auf den Fragekarten auch angegeben ist, welche Beweise für die jeweilige Frage zulässig sind. Habe ich nichts Passendes auf der Hand, dann bin ich also gezwungen zu tauschen. Gespielt werden pro Spiel 16 aus 18 Fragekarten. Für Variation sorgt die Tatsache, dass insgesamt 35 verschiedene Fragekarten mitgeliefert werden. Spiele ich das Spiel jedoch mehr als einmal mit derselben Gruppe, dann werde ich zwangsläufig Wiederholungen bei den Fragen haben.
Nach der Storyentwicklung wird noch eine Art Debriefing gespielt, bei dem reihum in zwei Runden jeweils die Antwort auf eine Frage von einer*einem Mitspieler*in erinnert werden muss. Sowohl für die Beantwortung von Fragen im Debriefing, als auch die Konstruktion der Story mittels Fragekarten gibt es zudem Punkte. Dieses Element macht das Spiel semi-kooperativ, denn die Person, die am Ende die meisten Punkte hat, gewinnt.
Gestalterisch setzt der Autor auf die AI-Software Midjourney, die er mit Gimp nachbearbeitet hat. An einigen Stellen lässt sich leider gut erkennen, dass dort kein*e „echte“ Designer*in am Werk war.
Unterstützt das Spiel die Storyentwicklung?
Die gute Nachricht: Insgesamt funktioniert das Erfinden der Story mittels Fragekarten ganz gut. In den Runden, die wir gespielt haben, haben wir interessante Mordfälle entwickelt. Allerdings stellt sich für mich ein wenig die Frage, ob dies aufgrund des Spielsystems oder trotz des Spielsystems gelungen ist, denn das Spiel legt mir doch mehrere kleinere und einen größeren Stein in den Weg. Diese betreffen sowohl die Gestaltung als auch das Spielsystem als solches.
Steinchen 1: Weder die Anleitung noch die Spielkarten sind gegendered.
Wie man an diesem Blog sehen kann, halte ich Gendern für wichtig, ich bin allerdings auch nicht dogmatisch. Ich habe mittlerweile vom Autor erfahren, dass die Anleitung zunächst in der weiblichen Form formuliert wurde. Der Verlag hat weder dies noch Gendern unterstützt. Dies ist sehr schade, da auf einigen Karten nicht einmal genderneutrale Formulierungen verwendet wurden. Dies mag sich vielleicht als sehr kleinteilige Kritik anhören, hat aber Auswirkungen auf die Storyentwicklung.
„Wie ist der Täter entkommen?“ framed die Gruppe eindeutig in Richtung einer männlichen Person. Selbst in unserer durchmischten Gruppe mit Personen, die sensibel sind in diesem Themenbereich, waren die Täter plötzlich immer männlich.
Dass es auch anders geht, zeigen die zwei Karten, bei denen neutrale Formulierungen verwendet wurden („Wo stand die Tatperson?“ und „Welches Auto fuhr die verdächtige Person?“). Diese sind jedoch leider in der Unterzahl. Die männliche Form wird bei fünf der Karten verwendet, bei denen es um eine*einen Täter*in geht.
Das Problem existiert jedoch nicht nur bei den Fragekarten, sondern auch bei den Beweisen („Zeuge“, „Verdächtiger“). Dies hindert die Kreativität und wird überdies durch die verwendeten Grafiken gestützt. Ich möchte betonen, dass ich generell nichts gegen AI habe und ich kann gut verstehen, dass für den Autor die Verwendung von AI aus Kostengründen alternativlos war, nachdem der Verlag keine reinen Symbolkarten nehmen wollte. Er problematisiert die Verwendung schließlich auch selbst im Design Diary. Allerdings sind trotzdem auf drei der sechs Verdächtigen-Karten ausschließlich männlich zu lesende Personen illustriert. Auf einer Karte ist nur eine weiblich gelesene Person und auf den anderen beiden Karten beide Geschlechter. Dies ist bei den Opferkarten besser gelöst, auf denen immer Gruppen zu sehen sind.
Ich bin mir sicher, dass er Autor auch in die Entwicklung der Leitfragen viel Arbeit gesteckt hat. Dennoch fand ich auch diese nicht optimal.
Steinchen 2: Manche der Fragen sind so gestellt, dass sie gegen bereits entwickelte Storyelemente laufen, oder sie sind zu spezifisch.
Zum Beispiel kann es vorkommen, dass meine Gruppe bereits im frühen Verlauf bei der Storyentwicklung zu dem Schluss gekommen ist, dass es keine Zeugen gibt („Welche Zeugen gibt es?“). Auf dem Tisch landen dann aber weitere Fragekarten wie „Wie steht der Zeuge zum Opfer?“. Darüber hinaus unterscheiden sich die Detailebenen der Fragen sehr stark. Dies ist intendiert, um im Verlauf des Spiels bei der Storyentwicklung immer spezifischer zu werden. Gerade in der letzten Phase geben manche Fragen aber viel zu viel vor. Beispiele hierfür sind „Warum hatte das Opfer Geldsorgen?“, oder „Warum hatte das Opfer eine Affäre?“.
In unseren Partien haben solche Fragen eher für Verwirrung gesorgt und den Diskussionsprozess gehemmt, als ihn zu befördern.
Am störendsten fand ich für das Spiel aber den dritten Aspekt:
Lapsus: Das Spiel funktioniert semi-kooperativ nicht so gut, wie es voll-kooperativ sein könnte.
Für den letzten Punkt möchte ich klarstellen, dass ich eines als gesetzt sehe: Das Spiel ist ein Erzählspiel und gewinnt seinen Spielreiz dadurch. Wäre es ein Spiel, bei dem es tatsächlich um das Ringen um Punkte gehen würde, müsste man wahrscheinlich eine andere Basis als gemeinsames Story-Telling wählen. Die Punkte dienen in dieser Lesart also dazu, den Spielfluss zu stützen. Sie sollen als Anreiz auch für redefaule Personen dienen, eine schöne Story zu entwickeln und sich im Debriefing Mühe zu geben, die Story gemeinsam aufzuarbeiten.
Dennoch funktioniert die Punktezählung für mich nicht, weil sie der Grundprämisse der freien Storyentwicklung an einigen Stellen entgegenläuft. Dies fängt schon mit der Zufälligkeit bei den Fragekarten an, bei denen es sowohl Fragen mit einem als auch mit zwei Punkten gibt. Bewusst hinarbeiten auf die Karten kann ich nicht – Fragen werden ständig ausgetauscht und das Ziehen ist nur limitiert beeinflussbar. Wäre es da nicht schön, wenn ich die Karte auswählen könnte, die für die Story am förderlichsten ist, statt auf Punkte gucken zu müssen?
Dann gibt es vier unterschiedliche Rollen mit sehr guten Handlungsanweisungen für die Erzählungen („blutig“, „blumig“, „absurd“ und „gründlich“). Die Storyentwicklung wurde hierdurch bei uns stark befördert. Die Rollen haben aber auch asymmetrische Fähigkeiten, die sich auf die Beweise beziehen und die unterschiedlich stark sind. Spiele ich das Spiel kompetitiv, versuche also Punkte zu erlangen, dann bin ich hier im Nachteil.
Die Debriefing-Phase lädt im zweiten Schritt des Spiels durch die Punkte zum Kingmaking ein. In dieser ist es nämlich so, dass die Person, deren Frage ich beantworte, noch einmal einen Punkt bekommt bei richtiger Beantwortung, während ich selbst zwei Punkte bekomme. In einer Viererpartie entfielen bei uns im Schnitt noch einmal sechs Punkte pro Person auf das Debriefing. Das sind ungefähr die Hälfte der Gesamtpunktzeit. Das entwertet nicht nur die erste Phase, sondern zementiert Imbalanzen. Alles in allem führen die Punkte deshalb nicht dazu, dass die Story vorangetrieben wird, sondern bewirken eher das Gegenteil.
Ein kleinerer Punkt an dieser Stelle zuletzt: Ein wenig schade finde ich auch, dass es an der Stelle nicht einmal Punktemarker gibt. Wir haben am Ende eine Strichliste geführt – geht auch, fühlt sich aber eben unvollständig an. Bei der nächsten Partie nehmen wir vielleicht die überzähligen Karten und haben dann einen Markerersatz.
Insgesamt glaube ich, dass das Spiel sehr davon profitiert hätte, dieses die Punkte vollständig wegzulassen oder eine dritte Phase mit einem Voting für die besten Storyelemente zu ersetzen. Der gewählte Weg fühlte sich in unserer Gruppe einfach falsch an und keine*r der*die Mitspielenden hätte die Punkte im Spiel wirklich benötigt. Spaß am Entwickeln der Story hatten wir aber trotzdem und das ist ja das wichtigste. Vielleicht ist aber auch die voll kooperative Variante eine gute Lösung, die der Autor mittlerweile bei BGG gepostet hat.
Transparenzhinweis
Für diese Rezension stand ein kostenfreies Rezensionsexemplar zur Verfügung, welches mir ohne Auflagen vom Verlag übermittelt worden ist.