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Evacuation – ein missverstandener Suchý?

von Johannes
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Über das Spiel

Vorwort

Ich gestehe: Die Spiele von Vladimír Suchý gefallen mir eigentlich alle. „Underwater Cities“ gehört schon seit Jahren zu den Lieblingsspielen von meiner Frau und mir. Und auch die etwas „unbeliebteren“ Titel der letzten Jahre („Woodcraft“ und „Messina 1347“) kamen bei mir sehr gut an. Entsprechend habe ich mich im letzten Jahr bei der Spiel in Essen sehr gefreut, als ich endlich Evacuation in den Händen halten konnte. Dennoch hat es etwas gedauert, bis ich mit dem Spiel richtig warm geworden bin. Doch es hat sich gelohnt: Evacuation ist in jeder Hinsicht ein besonderes Spiel und vielleicht sogar einer der besten Titel von Suchý bis dato.

Die Story

Die Story des Spiels ist recht schnell erzählt: Die Sonne dehnt sich aus und wird in nur wenigen Jahren die Erde verschlucken. Glücklicherweise ist die Raumfahrt der Menschheit bereits so weit entwickelt, dass es möglich wird, einen dafür geeigneten Planeten zu besiedeln. Und dieser ist nur wenige Lichtjahre entfernt. Mit der drohenden Sonne im Nacken fällt es den Menschen nicht allzu schwer, die Zelte abzubrechen und sich auf zum neuen Planeten zu machen.

Spielmechanik

Der Story entsprechend startet das Spiel mit einer funktionierenden Infrastruktur auf der Erde, die für die Spieler*innen Ressourcen produziert und alles bereithält, was das Leben lebenswert macht (Stadien – Brot und Spiele also). Auf den Tableaus der Spieler*innen ist aber auch der neue namenlose Planet abgebildet, auf dem die Menschheit angesiedelt werden soll. Als Spieler muss ich nun die Produktionen (Fabriken) und Menschen mittels zu kaufenden Raumschiffen von einem auf den anderen Planeten verlagern. Das mache ich mittels eine Aktions-Auswahl-Mechanismus, bei dem ich die einzelnen Aktionen auch mehrfach nutzen kann. Allerdings ist die Anzahl meiner Aktionen durch die vorhandenen Ressourcen begrenzt, denn ab der dritten Aktion jedes Jahres (Runde) kostet mich jede Aktion Energie. Die dritte noch eine Energie, die vierte schon zwei Energie und jede weitere dann jeweils drei Energie. Diese muss in den ersten Runden vom alten Planeten genommen werden, in der mittleren Spielphase dann von beiden und am Ende vom neuen Planeten. Die Produktion beträgt am Anfang sieben pro Ressource (Stahl, Energie, Nahrung). Viele Züge habe ich also nicht pro Jahr und die Zeit rennt schnell für die Menschheit und mich. In meinen Zügen kann ich dann meinen asymmetrischen Technologie-Baum aufleveln, Fabriken bauen, in Infrastrukturen investieren (Auftragskarten) und Raumschiffe und Arenen bauen. Insbesondere der letzte Punkt dieser Liste ist wichtig, denn die Raumschiffe brauche ich in der Transportphase, um von der Erde zum neuen Planeten zu kommen und die Arenen sind für die Zufriedenheit meiner Einwohner*innen auf der neuen Welt wichtig. Nach jeder Runde gibt es nämlich noch eine Ernährungsphase, bei der es nicht nur einen Nahrungsabzug, sondern auch einen Arenenschwellenwert gibt, den ich mindestens erreichen muss, um keine Strafe zu bekommen. Das Spiel endet, je nach Modus, sobald eine Person eine ausreichend große Produktion hat („Race-Modus“, der auch für Einsteiger*innen empfohlen wird) oder spätestens nach der vierten Runde („Punkte-Modus“, oder wenn im Race-Modus die Bedingung nicht erfüllt wird). Zwischen den Runden gibt es aber noch ein interessantes Ereignis. Mit jeder Aktionsauswahl entscheide ich mich auch für eine bestimmte Anzahl an Aktionspunkten von eins bis vier. Nach der Runde wird die Anzahl aufsummiert und alle Spieler*innen müssen ihren Spielfortschritt auf einer Leiste in einer Mitte festhalten. Das Übertreten bestimmter Schwellen erlaubt es, auf dem neuen Planeten bestimmte Bereiche zu besiedeln. Gleichzeitig schalte ich Symbole und Boni frei, die ebenfalls zur Besiedelung brauche. Auf der anderen Seite bedeutet ein schneller Fortschritt aber auch, dass ich frühzeitig Produktion auf der Erde verliere, denn auch diese wird beim Fortschritt abgezogen. Zudem gibt es am Rundenende noch Boni, wenn man bestimmte Aktionspunktewerte erreicht. Beim Auswählen der Aktionen ist also jede Menge zu berücksichtigen. Das macht das Spiel für mich sehr interessant, aber auch anspruchsvoll.

Meine Meinung

So kommt es, dass ich in den ersten Partien zunächst gar nicht verstanden habe, wie ich die Wirtschaft in diesem Spiel wirklich zum Laufen bekomme. Klar, die Aktionen selbst sind nicht übermäßig komplex, aber das Geflecht der zwei zunächst distinkten Wirtschaftskreisläufe und die notwendige Vorausplanung sind zunächst nur schwer zu überblicken. Dazu kommt, dass gelernte Vorgehensweisen aus anderen Spielen hier nicht einfach so übertragbar sind. Evacuation ist in seinem Spielgefühl und in der Spiellogik zunächst so besonders, dass die Einstiegshürde hoch ist. Ich glaube, es war in der dritten Partie, als bei mir so richtig der Knoten geplatzt ist und ich in dem Spiel die Qualitäten erstmals erkennen konnte, die es spielerisch mitbringt: einen interessanten neuen Ansatz mit Wirtschaft zu verfahren, gut ausgearbeitete und nach den eigenen Wünschen konfigurierbare Technologiebäume und jede Menge Stellschrauben zur Optimierung der eigenen Züge. Letzteres ist dann auch der Schlüssel zum Sieg. Ich muss die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit treffen und dabei immer schon das nächste Jahr, meine Raumschiffe und die Aktionspunkte für die späteren Phasen jeder Runde im Auge behalten. Für Spieler*innen, die einen Hang zur Analyse Paralyse haben, sicherlich eine Herausforderung. Dennoch dauert das Spiel nicht übermäßig lange (auf der Packung sind 60 bis 150 Minuten angegeben – wir lagen bislang immer unter zwei Stunden), denn Kettenzüge gibt es in diesem Spiel gar nicht.

Das Material des Spiels ist im Großen und Ganzen in Ordnung und durchaus zweckmäßig. Mich stört allerdings etwas das ungewöhnliche Schachteldesign, denn es schließt nicht schön mit den anderen Spielen im Regal ab. Zudem verlangt der sehr breite Spielplan nach einem großen oder zumindest länglichen Tisch. Dass die Schachteln von Weltraumspielen irgendwie in Brauntönen gestaltet sein müssen (außer bei „Federation“), daran habe ich mich schon gewöhnt. Sowieso erinnert mich das ganze Spiel optisch etwas an Terraforming Mars. Einen Preis für das schönste Spiel wird es in jedem Fall nicht gewinnen. Das muss es aber auch nicht, zumal der Graf Ludo ja leider nicht mehr vergeben wird.

Insgesamt stimmt für mich bei Evacuation das Gesamtpaket einfach.

Abschließende Bewertung des Ministeriums

„Evacuation ist in vielerlei Hinsicht ein ganz besonderes Spiel. Das fängt schon beim sehr langen Spielplan und dem ungewöhnlichen Schachteldesign an, hört aber zum Glück beim Spielgefühl auch nicht auf. Mir ist kein anderes Spiel bekannt, bei dem ich ein funktionierendes Wirtschaftssystem umsiedeln muss. Dadurch gibt es sehr viel vorauszuplanen, aber eben auch viel zu entdecken. Diejenigen, die es nach der ersten Partie enttäuscht weggelegt haben, sollte dem Spiel unbedingt noch einmal eine Chance geben. Aus meiner Sicht ist es bei BGG nämlich sträflich unterbewertet und eigentlich wahrscheinlich eines der besten Heavy-Euro-Games des vergangenen Jahrgangs.“
Johannes
Brettspielminister

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