Über das Spiel
- Erschienen bei FROSTED GAMES
- Autor: Eurico Cunha Neto
- BGG-Wertung: 8,2 | Weight: 3,34 | Spieler*innenanzahl: 1-5
Am Abgrund
Es ist das bekannte Dilemma nach dem Ende einer großen Kampagne: Die Mischung aus Triumph und jener Leere, die ein abgeschlossenes Epos hinterlässt. Dungeon Crawler, das ist für mich immer eine heiße Liebe auf Zeit, denn glücklicherweise habe ich eine feste Runde von 3–4 Personen, die sich mit voller Begeisterung von einem in das nächste Abenteuer stürzt. Erst GLOOMHAVEN, dann MACHINA ARCANA, diverse Kurzintermezzi wie die abgebrochenen SWORD & SORCERY und DESCENT 3-Kampagnen, FROSTHAVEN und in den letzten Wochen schließlich CHRONIKEN VON DRUNAGOR. Soweit unsere Genealogie.
Zumindest dieser Titel liefert noch Content-Nachschub. Die nächsten großen Erweiterungen APOKALYPSE und ERWACHEN sind bereits auf dem Weg. Das Feuer darf also weiterlodern. Doch diese habe ich noch nicht und für neue Käufer*innen wird ohnehin schwer, sie zu bekommen, denn FROSTED GAMES hat nur eine kleine Stückzahl für Vorbesteller*innen produzieren lassen.
Zeit also für ein Zwischenfazit zu einem Titel, den ich zunächst hauptsächlich erwarb, weil er im Abverkauf beim ehemaligen Vertriebspartner PEGASUS zum Schnäppchenpreis lockte. Jetzt wundere ich mich: CHRONIKEN VON DRUNAGOR hätte einer der großen Hits des Genres sein können. Der Markt ist nicht immer rational. Vor allem, wenn es um Kickstarter geht.
Die Inhalte, auf die ich mich beziehe, gehen über das Grundspiel hinaus. Während der ersten Hauptkampagne können zwei Abzweige mit jeweils drei Szenarien zu den Abenteuern ADMIRALS LUCCANORS VERDERBEN und DIE SCHATTENWELT genommen werden. Und weil ich einfach mehr wollte, wurden auch die Held*innen und Gegner*innen des MONSTER PACKS, das Set NEUE HELDEN & NEUE MONSTER und die KRIEGSBEUTE mit dem Kickstarter-Material integriert.
Impressionen
Der erste Eindruck
Der erste Eindruck, als ich die Packung öffne, ist erschlagend. CHRONIKEN VON DRUNAGOR kommt mit jeder Menge Spielmaterial: Miniaturen aller Held*innen und Gegner, Planteile, Plastikaufbauten, um unterschiedliche Geländehöhen zu erschaffen, eine Unmenge an Statusmarkern und ebenso viele Karten. Dass manche Karten aufgrund von Fehldruck-Korrekturen doppelt beiliegen (inklusive derer für Erweiterungen), sorgt initial für Verwirrung, da eine entsprechende Erklärung fehlt. Immerhin ist das Regelheft insgesamt solide, wenn verfasst, wenn auch an vielen Stellen deutlich zu knapp. Vor der ersten Partie simulierte ich das Spiel deshalb erst einmal anhand des Tutorials im Solomodus, um meiner sehr erfahrenen Gruppe den Einstieg zu erleichtern. Ohne Nachschlagen kommen wir trotzdem nicht weit, denn die Vielzahl an kleinen Regeln und vor allen verschiedenen Statuseffekte erfordern Einarbeitungszeit.
Ein dringender Service-Hinweis an dieser Stelle: Die ausgezeichneten Spieler*innenhilfen auf BoardGameGeek (BGG) sind fast unverzichtbar. Ohne die würde ich das Spiel nicht spielen wollen. Weniger ist dann doch manchmal mehr.
Unter der Haube
Dabei ist das Spiel im Kern zugänglich. In der Mitte des Tisches liegt neben dem aufgebauten Szenario eine Initiativeleiste, die verschiedene Rollen vorsieht. Eine Farbe gibt an, wo Spieler*innen und Gegner zu platzieren sind. Dadurch wechselt die Initiative selten, was ich als angenehm für den Spielfluss empfand. Bin ich am Zug, dann darf ich mich gemäß meiner Reichweite über Felder bewegen und zwei zahlenlose kleine Farbwürfel auf meinem Tableau einsetzen. Die Farbwürfel haben verschiedene Funktionen. Gelbe sind zum Beispiel Nahkampf- und rote Fernkampfwürfel. Jede Aktion, jeder Gegenstand hat Plätze, die Würfel bestimmter Farbe zulassen. Das Platzieren triggert die Aktion, zum Beispiel den Kampf. Auch dieses ist abseits der Statuseffekte recht einfach gehalten. Meine Waffe hat einen Schadenswert und einen Trefferwert. Nach dem Einsetzen des Farbwürfels fordere ich mein Glück mittels eines zwanzigseitigen Zahlenwürfels (W20) heraus. Ist mein Wert inklusive aller Modifikatoren so hoch wie der Trefferwert, wird der Schaden auf der Gegnertafel appliziert. Auch dies empfinde ich als elegant, weil die Gegner durch farbliche Ringe einfach zu unterscheiden sind und die Tafel übersichtlich ist.
Werde ich selbst angegriffen, dann kann ich Reaktionsfähigkeiten einsetzen, die mich ebenfalls Farbwürfel kosten. Habe ich keine, trifft der Angriff mit voller Wucht und ich verliere Lebenspunkte. Die Rast, die es auch in diesem Spiel gibt, dient der Rückgewinnung von Würfeln und dem Freimachen von Fähigkeiten. Zur Strafe gibt es schwarze Fluchwürfel, die meine Fähigkeiten blockieren. Habe ich irgendwann zu viele davon gesammelt – die ich aber auch abbauen kann –, verliert die Gruppe das Szenario. Das Gleiche geschieht, wenn ein*e Held*in zweimal auf null Lebenspunkte geschlagen wurde. Ist die Initiativeleiste einmal abgearbeitet, dann kommt eine weitere Mechanik zum Tragen. Runenplättchen werden gezogen und auf die Leiste gelegt. Diese haben im Grundspiel zwei Funktionen: Erstens sind sie ein Timer. Ist das Säckchen leer, ist die Partie verloren. Zweitens breitet sich Dunkelheit aus. Dieser „Nebel des Krieges“ schadet den Held*innen bei Berührung und stärkt die Gegner. Das Auslegen der Dunkelheit war manchmal etwas fummelig, doch ich erkenne die Notwendigkeit der zeitlichen und räumlichen Begrenzung für das Spielerlebnis und dessen thematische Bedeutung an. In APOKALYPSE wird dieser Mechanismus übrigens verändert.
Nach dem Szenario bekomme ich manchmal eine Belohnung in Form von Gegenständen oder neuen (aktiven oder passiven) Fertigkeiten. Die einzelnen Held*innenklassen haben Skillbäume für ihre Rollen und auch die Klassen bieten Ausbaumöglichkeiten. Zusätzlich zu den Fertigkeiten gibt es passende Farbwürfel, sodass sich auch hier der Pool im Spielverlauf immer weiter vergrößert. Erfahrungspunkte und Level gibt es nicht. Wohl aber Listen, welche*r Held*in bei welchem Szenario bereits wie viele der Upgrades bekommen haben sollte. Dies erlaubt es einzelnen Spieler*innen auch zwischendrin mal aus der Kampagne aus- und wieder einzusteigen, denn das Spiel skaliert nahtlos mit der Spieler*innenzahl. Da einer unserer Mitspieler nur bei einem Fünftel der Partien dabei war, konnten wir dies intensiv und erfolgreich ausprobieren.
Immersion mit kleinen Schönheitsfehlern
Die größte Stärke von CHRONIKEN AN DRUNAGOR ist allerdings nicht das hervorragende Spielsystem, sondern die Verknüpfung von Story und Spiel. Bei den drei ‘HAVENS war stets meine größte Kritik, dass die Spiele zwar abwechslungsreich sind, ich inhaltlich aber nicht mithalten konnte. Das ist hier gegenteilig. Schon die Einleitung ist gut geschrieben und holt mich ab. Gleiches gilt für die Einführungen und den Ausklang der einzelnen Szenarien. Neue Erzählabschnitte innerhalb der Szenarien werden meist durch Türtexte oder Interaktionen eröffnet, die angenehm prägnant bleiben und das Szenario immer sinnvoll vorantreiben. Zwischendurch dürfen auch Entscheidungen getroffen werden, die an der einen oder anderen Stelle die Story auch ein wenig in eine andere Richtung treiben – bis hin zum Auslassen einzelner Szenarien. Dennoch entsteht, trotz der 3D-Bauweise des Geländes, eine gewisse Geradlinigkeit. Die Welt ist nicht offen. Mir reicht es aber so.
Etwas zu geradlinig sind mir hingegen die Szenarien selbst. In den meisten steht der Kampf im Vordergrund. „Töte alle Bedrohungen“ ist das erklärte Ziel. Nur selten wechselt dieser Kampf zu einem Kampf gegen die Zeit. Hier wäre sicher mehr Potenzial im Leveldesign drin gewesen.
Einer der Gründe, warum ich sehr frühzeitig die ersten Erweiterungspacks geöffnet habe, war der Wunsch nach mehr Abwechslung bei den Monstern. Es gibt drei Arten von Monstern in CHRONIKEN VON DRUNAGOR: Weiße, Graue und Schwarze. Jeweils in unterschiedlichen Stärkeleveln. Je nach Szenario wird vorgegeben, wo ein Monster welcher Stufe spawnt. Oftmals kann dabei per Zufall entschieden werden, gegen welche Gegnerart ich antreffe. Die Grundbox kommt aber nur mit insgesamt fünf weißen und grauen und zwei schwarzen Monstern. Das wird rasch eintönig. Erst mit der Hinzunahme der Erweiterungen erhalte ich genügend Varianz. Bei den schwarzen Monstern hilft aber auch das nicht wirklich. Hier sind einfach zu wenige vorhanden und – was ich schade finde – diese sind alle mechanisch relativ ähnlich; Fernkämpfer*innen gibt es hier gar nicht.
Die Bosse in Form von Kommandeuren und auch der Skelettkönig selbst, welcher mich bereits von der Box angrinst, machen dies besser. Durch den Einsatz variabler Karten fühlen sich die Kämpfe genuin dynamisch an und bereiten mir große Freude.
Das Variabilitätsproblem der Monster tritt auch bei den Held*innen auf. Die Grundbox enthält fünf. Mit den Erweiterungen lässt sich diese Zahl aber mächtig aufbohren, sodass eigentlich alle Vorlieben getroffen werden sollten. Von Glaskanonen über Tanks bis hin zu unterstützenden Barden ist alles dabei. Nur die Darstellung der weiblich gelesenen Heldinnen lässt mich ein wenig irritiert zurück: Mit Stereotypen wird nicht gebrochen. Die knappen Harnische rücken die stark idealisierten Körper ins passende Licht, sodass diese auch aus einem 80er-Jahre-Fantasyroman stammen könnten. Dies ist nicht nur optisch ein Anachronismus. WIEBKE WARBURG wählte aus diesem Grund das Spiel auch als (Negativ-)Beispiel für ihren Praxisanteil im Workshop „Spiel und Diversität“ beim TAG DER BRETTSPIELKRITIK 2024 (die Folien gibt es hier).
Unterschieden werden die Monster auf den Plänen durch farbige Ringe. Oft war es für uns schwierig, diese voneinander zu unterscheiden. Ich glaube, dass die Farbpalette hier mehr Möglichkeiten gehabt hätte. Aber das ist eine Kleinigkeit. An vielen Stellen hilft ja auch, dass die Monster sich verteilen. Über mehrere Ebenen und mit wechselndem Fokus auf die Held*innen.
Insgesamt stellt sich CHRONIKEN VON DRUNAGOR so für mich als sehr rundes Spielerlebnis dar. Die durch die Farbwürfel getriebene Grundmechanik funktioniert wunderbar und erlaubt ein flüssiges Spielerlebnis. Phasen der Downtime entstehen selten. Die Aktionen der Gegner sind sehr klar und das Management des Spiels hält sich sehr in Grenzen. Der Umfang schon der Grundbox ist beträchtlich. Mit Hinzunahme der aus meiner Sicht fast obligatorischen Zusatzboxen wird das Spielerlebnis aber noch epischer.
Dieses Gefühl wird nicht zuletzt auch durch die vielen Miniaturen und die ansprechende Hintergrundstory und das Einfügen der Storyelemente in die einzelnen Szenarien verstärkt. Ich komme gerne wieder nach Daren. Einem Ort voller Gefahren, aber auch toller spielerischer Erlebnisse.
Abschließende Bewertung
Transparenzhinweis
Für stilistische Überarbeitungsschritte sowie das Lektorat kam nach Erstellung der Rohfassung KI-Tools zum Einsatz. Die Rezension, ihre Argumentation und alle Bewertungen sind eigenständig verfasst.