Über das Spiel
- Erschienen bei Pegasus
- Autor: Jerome Cance, Laurent Kobel
- BGG-Wertung: 8,3 | Weight: 2,57 | Spieler*innenanzahl: 1-4
Frevel
Ich starte heute mit einem Geständnis. Als mir das Spiel bei der Spielwarenmesse in Nürnberg vorgestellt worden ist, war mein Interesse zunächst ausgesprochen gering. Der erste Eindruck erinnerte zu stark an ein Open-World-Adventure – und davon hatte ich nach einem einmaligen Ausflug zu MYTHWIND eindeutig genug. Übrigens auch der Grund, warum ich bislang um VANTAGE einen Bogen gemacht habe. Zudem erschienen mir fünf Kapitel zu wenig, um narrativ wirklich einzutauchen. Aufgrund durchweg positiver Rezensionen und Platzierungen in den Toplisten von BRETTAGOGEN und BOARDCAST bestellte ich HEREDITY dennoch für den Sommerurlaub – und diese Entscheidung sollte ich nicht bereuen.
Impressionen
Achtung
Vorab bedarf es jedoch eines wichtigen Hinweises: In HEREDITY haben sich einige Fehler eingeschlichen, die in zwei Fällen sogar das Fortkommen innerhalb der Kampagne blockieren. Es empfiehlt sich daher dringend, spätestens vor Beginn des zweiten Kapitels Einsicht in die offizielle Errata zu nehmen. Zwar handelt es sich formal nur um kleine Ungenauigkeiten, in den jeweiligen Situationen sind sie jedoch spielentscheidend.
Wie ein rundenbasiertes Rollenspiel
HEREDITY entführt mich in eine postapokalyptische Welt. „Die Welt, wie sie einmal war, gibt es nicht mehr, die Zivilisation ist zusammengebrochen. Es gilt das Recht des Stärkeren. In Heredity – Die Geschichte von Swan verkörpern die Spielenden eine Familie, die abgeschieden lebt und den verschiedenen marodierenden, gewaltbereiten Gruppen aus dem Weg gehen konnte – bisher…“ (PEGASUS 2025).
Gleich zu Beginn startet das Spiel actionreich. Atempausen gibt es nicht und das ist gut so, denn in nur fünf Kapiteln wird in diesem narrativen Spiel eine ganze Geschichte erzählt. Grundlage hierfür bildet ein Spielsystem, das sich deutlich an rundenbasierten Rollenspielen aus dem digitalen Bereich orientiert. Jede Runde haben die vier Familienmitgliedern, die von mir und meinen Mitspieler*innen gelenkt werden, drei Aktionsscheiben zur Verfügung. Mit diesen kann ich mich über die ausliegenden Karten bewegen und mit meiner Umwelt interagieren (ansehen, sprechen, benutzen). Die Karten geben den inhaltlichen Rahmen dieser Interaktionen vor und begrenzen die Handlungsmöglichkeiten durch die individuellen Fähigkeiten der Figuren. Zum Beispiel habe ich nur zwei Hände zur Verfügung. Liegen auf beiden jeweils eine Scheibe, dann muss ich im Anschluss etwas anderes machen, oder die Aktion verfallen lassen. Aber die Zeit rennt. Sind alle Aktionen verbraucht, dann dreht sich die Geschichte mittels Erzählkarten weiter, bis es wieder zur Aktionsphase kommt.
Etwas Zufall beim Abhandeln von Aktionen entsteht über sogenannte Karmakarten, die dem Modifikatordeck aus GLOOMHAVEN gleichen. So wird zum Beispiel in Kampfsituationen der Schaden durch Karmakarten erhöht oder verringert. Bekommen meine Charaktere Schaden, dann werden Fähigkeiten verdeckt und stehen nicht mehr zur Verfügung. Verdecke ich zu viel, dann stirbt ein Charakter und die Runde ist verloren. Da mich andere Fähigkeiten heilen lassen, war dies in meinem Durchlauf aber kein Problem. Treffe ich Entscheidungen, hat dies langfristige Auswirkungen auf das ganze Spiel. Dies spiegelt sich durch einen Austausch der Karmakarten wider. Allzu oft kommt dies aber nicht vor.
Die Mechanik dient insgesamt weniger als dominierendes Spielelement, sondern vielmehr als Mittel zur Intensivierung des narrativen Erlebens – und genau darin liegt eine der großen Stärken von HEREDITY. Die Komplexität ist bewusst dosiert, ohne das Spielgefühl einzuschränken. Ein schwieriger Balance-Akt, der hier gemeistert wurde. Nur bei den Erzählkarten wuchs mir der Verwaltungsaufwand manchmal ein wenig über den Kopf. Das lag aber sicherlich auch daran, dass die Vielzahl an Karten die Kapazitäten meines großen Campingtisches sprengte und ich irgendwann Karten über und untereinander legen musste.
Gefühle die bleiben
Am Ende blieb aber vor allem ein sehr positives Gefühl.
Über die fünf Kapitel hinweg entwickelt sich ein emotional dichtes Spielerlebnis. Ich habe mit der Familie gelitten und gekämpft und vieles erlebt. Stellenweise erinnert dies an eine gut inszenierte Serie – man möchte einfach die nächste Folge starten, und so habe ich gemeinsam mit meiner Frau auch das Spiel quasi in einem Rutsch erlebt. Die Vielfalt der fünf sehr unterschiedlichen Kapitel sorgt dafür, dass sich keine spielerische Redundanz einstellt. Mit Spannung erwarte ich, was sich hinter der nächsten Ecke beziehungsweise auf der nächsten Karte verbirgt. Die kleinen Rätsel, die ins Spiel eingebaut sind, sind gut lösbar und meistens auch nachvollziehbar. Nur an einer Stelle wusste ich nicht so recht weiter und hätte mir andere Lösungen gewünscht.
In Bezug auf die spielerische Freiheit muss ich allerdings im Vergleich zur Videospielwelt Abstriche machen. Das Spiel bietet zwar ausreichend Zeit, die Umgebung zu erkunden, doch entsteht kaum Zeitdruck, da die Timer selten wirklich bedrohlich wirken. Die suggerierte Entscheidungsfreiheit bleibt teilweise oberflächlich: Viele Pfade und Entscheidungen sind im Kern vorgegeben. Dies betrifft sowohl die mitzunehmenden Gegenstände als auch den späteren Verlauf der Geschichte bis hin zum Abschluss des Spiels. Letztendlich wird es nicht viele Unterschiede zwischen den Durchläufen geben.
Hier hätte ich mir noch ein wenig mehr Möglichkeiten des individuellen Erlebens gewünscht. Hoffentlich ganz bald in einem anderen Setting mit einer neuen Geschichte. Das Spielsystem hat nämlich sehr viel Potenzial und mir hat es sehr viel Freude bereitet, die Geschichte von Swan mitzuerleben.
Transparenzhinweis
Für diese Rezension stand mir ein preisreduziertes Rezensionsexemplar zur Verfügung, das ich über den Pegasus Presseshop bezogen habe.
Abschließende Bewertung des Ministeriums
